Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
Sie haben bei Ihrer Vereidigung dem Schwur geleistet, unter anderem das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes zu wahren. Ich wende mich an Sie, weil auch ich bei meiner Vereidigung als Rechtsanwalt geschworen habe, die verfassungsmäßige Ordnung zu wahren.
Derzeit finden sich immer wieder öffentliche Äußerungen von Politikern und Politikerinnen, die zum Zwecke der Sicherung der inneren Sicherheit eine erhebliche Verschärfung der Staatlichen Eingriffbefugnisse auch in die Rechte von unverdächtigen Bürgern fordern. Auch sind in der Vergangenheit Gesetze verabschiedet worden, die die Gefahr in sich bergen, dass sich die Bundesrepublik Deutschland schrittweise in einen Staat wandelt, der sich Befugnisse gegeben hat, ohne jeden konkreten Anlass seine Bürger zu überwachen.
Insbesondere das Verhalten des Herrn Innenministers zeigt Tendenzen, dass dieser in eklatanter Art und Weise seinen Amtseid, die Verfassung zu schützen und zu achten, wiederholt bricht, beziehungsweise zu brechen droht. Höchst bedauerlicherweise greifen Sie in diese Diskussion überhaupt nicht ein, sondern hüllen sich in Schweigen.
Vor dem Hintergrund einer "terroristischen Bedrohung" wird in der Bevölkerung wiederholt, bewusst und systematisch Angst geschürt. Damit werden Überwachungsgesetze, die sich anlass- und verdachtsunabhängig gegen praktisch jeden richten, gefordert, begründet und umgesetzt. Diese stellen eine allenfalls oberflächliche Beruhigung der zuvor geschürten Ängste dar, erscheinen für den Schutz vor Anschlägen jedoch weitgehend nicht geeignet, weil sie sich, wenn man das möchte, ohne weiteres umgehen lassen. Welcher Terrorist würde ohne hinreichende Verschlüsselung Anschläge planen und diese Pläne unverschlüsselt über das Internet verbreiten? Ein Terrorist, der sich so verhalten würde, erscheint nicht als Bedrohung.
Unabhängig davon ist eine weitreichende Überwachung der Gesamtbevölkerung, insbesondere ihres Telekommunikationsverhaltens, zur Bekämpfung einer "terroristischen Gefahr" unverhältnismäßig, da diese jeden einzelnen Bürger unter Generalverdacht stellt. Das Sammeln von personenbezogenen Daten aller Bürger auf Vorrat ist mit unserer Verfassung nicht, vorallem nicht ohne weiteres, in Einklang zu bringen. Nicht alleine notwendig ist dabei auch eine strikte Zweckbindung der Daten.
Das ständige Gefühl, möglicherweise vom Staat überwacht zu werden, birgt die Gefahr in sich, dass sich Bürgerinnen und Bürger in der Wahrnehmung wichtiger demokratischer Rechte wie Versammlungsfreiheit, freie Informationsbeschaffung und freie Meinungsäußerung einschränken, wie bereits 1983 vom Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil festgestellt wurde. In einer Gesellschaft, in der kritische Denkweisen, kritische Äußerungen und nonkonformes Verhalten, ohne jeden Gesetzesbruch die Angst vor Nachteilen nach sich ziehen, werden Konformismus und demokratische Unmündigkeit erzeugt; eine solche Gesellschaft würde kulturell verarmen und ihre Identität verlieren.
Konkret wurden und werden ungeeignete und unverhältnismäßige Maßnahmen geplant und bereits teilweise beschlossen, die in unsere Grundrechte massiv eingreifen:
* ein verfassungswidriges Luftsicherheitsgesetz
* eine Anti-Terror-Datei mit unklaren Grenzen und Aufnahmevoraussetzunge
* eine Bundesweite Steuernummer
* ein Elektronischer Reisepass mit biometrischen Merkmalen
* Genanalysen
* Online-Durchsuchung
* Online-Zugriff auf Melderegister durch Polizeibehörden
* Präventive Einschränkung der Freizügigkeit
* Rasterfahndung
* Videoüberwachung
* eine Vorratsdatenspeicherung mit unklaren Grenzen
* eine mit dem ursprünglichen Zweck des Mautsystems unvereinbare Nutzung
* Engere Zusammenarbeit zwischen Geheimdiensten und Verfassungsschutz und der Polizei
Diese und weitere Vorhaben greifen tief und in vielfacher Weise in das Grundgesetz, die Grundrechte der Bürger und das bestehende Wertesystem unserer Gesellschaft ein. Nicht immer ist dabei auch eine hinreichende Rechtfertigung für diese Eingriffe ersichtlich, denfalls wird diese, wenn sie vorhanden sein sollte, nicht transparent gemacht.
Durch die bundesweite Steuernummer ist jeder Bürger und jede Bürgerin durch eine eindeutige, zentral gespeicherte Kennung in diversen Datenbanken erfasst. Mit dem Online-Zugriff auf Melderegister können mit minimalem Aufwand (und damit minimaler Hemmschwelle) personenbezogene Daten angefordert und vollautomatisch verarbeitet werden. Diese technischen Lösungen verleiten dazu, Daten für vollkommen neue Zwecke zu nutzen, wie beispielsweise Erkennung auf Videobildern.
Ein konkretes Beispiel für eine derartige Zweckentfremdung und Aufweichung der grundgesetzlich notwendigen Zweckbindung der Daten ist das LKW-Mautsystem. Es war ursprünglich nur zur Abrechnung der LKW-Maut bestimmt. Offiziell wurde es mit dieser klaren Zweckbindung eingeführt, die aber bereits kurz darauf aufgehoben wurde. Bereits in der Spezifikation der Ausschreibung waren Eigenschaften vorgesehen, die über den ursprünglichen Zweck weit hinaus gehen. Das System ist in der Lage, den kompletten Personenverkehr auf deutschen Autobahnen zu überwachen. Dieser Einsatz, der dem ursprünglich verabschiedeten Gesetz deutlich widerspricht, wurde bereits 2005 von Bundesinnenminister Schäuble gefordert. Es besteht den Anschein, dass bewußt hohe Hürden bei der Zweckbindung in das Gesetz geschrieben wurden, um dieses verfassungskonform gestalten zu können und bereits bei der Verabschiedung des Gesetzes die bedenkliche Erweiterung der Zweckbindung der Daten geplant war.
Persönlichkeits- und Bewegungsprofile werden in unterschiedlichsten Lebensbereichen erstellt und miteinander verknüpft. Die geplante Vorratsdatenspeicherung erlaubt eine vollständige und rückwirkende Analyse persönlicher, privater und beruflicher Interessen und des damit einhergehenden Verhaltens der Bürger.
Ich erlaube mir an dieser Stelle eine Kurzzusammenfassung, wie es zu der geplanten Vorratsdatenspeicherung kam: Der 15. Deutsche Bundestag hat am 17. Februar 2005 mit deutlicher Mehrheit den Beschluss gefasst, die auf den Weg gebrachte Datenspeicherung mit einer Mindestspeicherfrist und damit eine Speicherung von Daten auf Vorrat, abzulehnen. Am 14. Dezember 2005 hat dann das Parlament der Europäischen Union die Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung beschlossen. Eine der wesentlichen treibenden Kräfte war dabei die Bundesministerin der Justiz, was sich unter anderem daran zeigt, dass sie alle deutschen EU-Abgeordneten angeschrieben hat und für das Vorhaben geworben hat. Inzwischen geriert sie sich allerdings öffentlich als Person, die sich erfolglos für ein Verhindern der Richtlinie eingesetzt haben will. Nunmehr ist der Deutsche Gesetzgeber dabei, die zweifelhafte Richtlinie in nationales Recht umzusetzen und dabei - so auch die Vorschläge und Forderungen des Bundesrates - noch erheblich über die Anforderungen des EU-Vorhabens hinauszugehen.
Die Positionsermittlung, ob durch Mobiltelefone, RFID-Chips (elektronischer Reisepass), Überwachungskameras und/oder Maut-Brücken, erlaubt eine umfassende und praktisch lückenlose Verfolgung jeder Bewegung der Bürger in der Bundesrepublik.
Die heimliche Online-Durchsuchung von privaten Computern ist ein massiver Eingriff in den höchstpersönlichen Raum der Bürgerinnen und Bürger. Da sie unbemerkt stattfinden soll, müssen alle Bürger und Bürgerinnen in ständiger Angst vor dieser Maßnahme leben und werden ihr Verhalten entsprechend anpassen, auch wenn Ihnen nichts vorgeworfen wird und vorgeworfen werden kann. Eine aktive Manipulation des untersuchten Computers ist bei einer Online-Durchsuchungen nicht nur denkbar, sondern technisch fast unvermeidlich. Dies macht den Wert einer verdeckten Online-Durchsuchung als gerichtliches Beweismittel prozessrechtlich äußerst zweifelhaft. Außerdem speichert ein Computer, anders als die meisten anderen Haushaltsgegenstände, oft über lange Abschnitte des Lebens seiner Nutzer detaillierte und sehr intime Informationen aus dem höchstpersönlichen Lebensbereich, der gegen Eingriffe von Seiten des Staates besonders geschützt sein muß.
Im Fall der Anti-Terror-Datei werden Informationen zusammengeführt, die zuvor aus gutem Grund, er findet sich in der Vergangenheit, getrennt gehalten wurden. Die Trennung von Polizei und Geheimdienst wird nunmehr schleichend aufgehoben, da immer wieder politische Forderungen nach der Zusammenführung der auf der einen oder anderen Seite vorhandenen Daten aufgestellt werden. Das zeigt sich bei den zweifelhaften Flügen von Militärflugzeugen beim G8-Gipfel, die - angeblich - sehr kurzfristig geplant worden sein sollen; es gibt aber Hinweise, dass diese Flüge langfristig geplant wurden.
Durch die Zusammenführung von Daten und das Zusammenwirken der einzelnen Überwachungsmaßnahmen wird eine neue Dimension der Gefährdung von Grundrechten erreicht.
Die Bestrebungen, das Grundgesetz in seinem Wesensgehalt, nämlich dem Schutz der Bürger- und Menschenrechte, zu ändern, um Überwachungsmaßnahmen "verfassungskonform" gestalten zu können, erscheinen schlicht verfassungsfeindlich. Die Schutzfunktion des Grundgesetzes, den schleichenden Übergang in einen vom Bild des Grundgesetzes abweichenden Staat nachhaltig zu verhindern, droht dabei ausgehöhlt zu werden.
Es werden bewusst Gesetze formuliert, die im Widerspruch zum Geist des Grundgesetzes stehen, und wiederholt vom Verfassungsgericht beanstandet und aufgehoben werden müssen. Unter anderem wird versucht, über die "Hintertür EU-Recht" die Verfassung und den geäußerten Willen der gewählten Volksvertreter zu umgehen. Ein MdB hat öffentlich gefordert, die (sinngemäß) "Grenzen des Grundgesetzes dadurch auszuloten", dass wiederholte Gesetzesvorhaben auf den Weg gebracht werden, in der Hoffnung, dass früher oder später eines dabei ist, dass Verfassungsgemäß ist. Das ist einem Verfassungsstaat unwürdig, denn bereits der Gesetzgeber hat die Verfassung zu achten und zu schützen.
Maßnahmen, die die Grundpfeiler unseres Gesellschaftssystems versetzen sollen, müssen offen, breit und wahrheitsgemäß in der gesamten Gesellschaft diskutiert werden, um Akzeptanz und Rechtfertigung zu erlangen. Diese tiefgreifenden Änderungen werden jedoch zur Zeit eher still und heimlich im Hinterzimmer formuliert und - so hat es jedenfalls den Anschein - im Eilverfahren vom Parlament verabschiedet.
Der Datenschutz und die Informationelle Selbstbestimmung sind Güter von Verfassungsrang. Deshalb muss auch den Bedenken der Datenschutzbeauftragten Gehör geschenkt werden. Denkbar wäre etwa, dass bei fachlich begründeten Bedenken gegen Gesetzesvorhaben die Datenschutzbeauftragten eine Überprüfung durch das Verfassungsgericht einleiten können, was das Inkrafttreten bis zum Abschluss der Prüfung durch das BVerfG aufschiebt.
Dass der Bundespräsident unabhängig Gesetze im Sinne seiner Aufgabenstellung prüft und diese zumindest manchmal trotz politischen Druckes zurückweist, ist ein kleiner, aber leider nicht hinreichender Lichtblick, zumal die Prüfungskompetenz des Bundespräsidenten nach überwiegender Auffassung beschränkt ist.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben am 30.11.2005 in Ihrer Regierungserklärung ausgeführt: "Er [der internationale Terrorismus] richtet sich gegen unser gesamtes Wertesystem, gegen Freiheit, Toleranz, Respekt und die Achtung der Menschenwürde, gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Würden wir diese Werte aufgeben, würden wir uns selbst aufgeben."
Bei mir entsteht angesichts der vielfältigen Pläne zur Einschränkung der Grundrechte der Bürger und des angedachten Umbaus des Grundgesetzes der nachhaltige Eindruck, dass die Freiheit nicht nur vom internationalen Terrorismus bedroht wird, sondern auch durch mangelndes Augenmaß der Politik, sodass die Gefahr besteht, dass die Politik das bestehende Wertesystem aufgibt.
Bitte setzen auch Sie sich für das bestehende Wertesystem, ein freiheitliches, demokratisches, rechtsstaatliches, sowie tolerantes, respektvolles, die Menschenwürde der Bürger achtendes freiheitliches Deutschland ein.
Bitte richten Sie Ihren in der Regierungserklärung geäußterten Apell "Lassen Sie uns mehr Freiheit wagen!" nicht nur an die Bürger, sondern nehmen Sie ihn sich auch selbst zu Herzen: Mehr Freiheit wagen.
Mit freundlichen Grüßen
Dominik Boecker (Rechtsanwalt)
Vorstehender Text wurde von mir verfasst und steht unter folgender Lizenz:

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Köln, am 28. Juni 2007