Mittwoch, 22. August 2007

"Gentrification" + "Prekarisierung" + Bibliothek = U-Haft ?!!

Was dabei herauskommt, wenn anhand von „Schlüsselworten" herumgeschnüffelt wird, belegt ein Beispiel, das man eigentlich kaum glauben kann: Insbesondere die Recherche nach bestimmten Begriffen bzw. deren Verwendung in Verbindung mit Zugang zu Bibliotheken kann ausreichen, um jemanden einer fast einjährigen Observation auszusetzen, die schließlich in einer Verhaftung wegen Terrorismusverdachts auf mehr als fragwürdiger Grundlage endet, wie heise berichtet:

Vor drei Wochen wurde der Berliner Stadtsoziologe Andrej H. unter dem Verdacht der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gemäß § 129a" festgenommen. Als Grund für die Festnahme nannte die ermittelnde Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe die Benutzung von Vokabeln, die auch in Schriften der sogenannten "Militanten Gruppe" vorkommen. Außerdem verfügte er nach Angaben der Ermittler "über Zugang zu Bibliotheken, um dort die Recherchen durchzuführen, die notwendig sind, um Texte für eine militante Gruppe zu verfassen."
... BKA-Beamte wurden mit einer Google-Suche nach den Begriffen "Gentrification" und "Prekarisierung" auf den Stadtsoziologen aufmerksam. Die Tatsache, dass der Soziologe zu den Begriffen forschte, die für die Aufwertung oder Abwertung von Stadtvierteln benutzt werden, genügte offenbar den BKA-Beamten, um eine Verbindung zur "militanten Gruppe" herzustellen. "Das reichte für die Ermittlungsbehörden für eine fast einjährige Observation, für Videoüberwachung der Hauseingänge und Lauschangriff", erklärte die Anwältin Christina Clemm der Zeitung.
... Nach Angaben der Anwältin Christina Glemm wurde ihr Mandant heute aus der Haft entlassen - der Haftbefehl sei aber nicht aufgehoben, der Ermittlungsrichter am BGH "hat meinen Mandanten nach Zahlung einer Kaution und unter Auferlegung verschiedener Auflagen von der Untersuchungshaft verschont". Die Bundesanwaltschaft habe mitgeteilt, dass sie dagegen Beschwerde einlegen werde.

Mittlerweile ist ein offener Brief an die Generalbundesanwältin Monika Harms von 2000 Wissenschaftlern und Studenten unterschrieben worden. Wenn die dortigen Angaben zu den Verdachtsmomenten gegen Dr. Andrej Holm und weitere Beschuldigte zutreffen und derartige Ermittlungsmethoden Schule machen, könnte wohl schon bald ein nicht unerheblicher Teil von Wissenschaftlern in U-Haft verschwinden.

Der Protest gegen die Inhaftierung des Wissenschaftlers ist international, vgl. hierzu auch taz:

"Im Grunde steht jeder Wissenschaftler, der sich mit Themen wie Gentrification beschäftigt, mit einem Bein im Knast", sagte Häußermann. Dabei sei das Thema, die Aufwertung von Stadtvierteln für Besserverdienende, bereits seit den Achtzigerjahren Teil der soziologischen Forschung in Deutschland. In den USA gehört Gentrification ohnehin längst zum Standardvokabular.

Entsprechend sind auch die Kommentare US-amerikanischer Stadtforscher zu den Terrorismusvorwürfen in Deutschland. Die Soziologen Richard Sennett und Saskia Sassen sprechen von einem Vorgehen "nach Guantánamo-Art". Dutzende von Soziologen und Stadtforschern aus den USA haben sich inzwischen mit einem eigenen Brief an die Bundesanwaltschaft gewandt. Darin verwahren sich die Wissenschaftler "gegen den unglaublichen Vorwurf, die wissenschaftliche Tätigkeit und das politische Engagement sei als intellektuelle Mittäterschaft in einer angeblichen terroristischen Vereinigung zu bewerten".

Schöne Aussichten, oder? Aber wer nichts zu verbergen hat ...

Das dachte vielleicht sogar der hier Beschuldigte auch, nichts ahnend, wie schnell man in das Raster des BKA und anderer Verfolger geraten kann.

Links gefunden bei smartNUTS

P.S. Noch (27.o8.2007) bin ich auf freienm Fuß ...

6 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ich bin so dankbar, dass dieses Thema e n d l ic h aufgegriffen wird. Wollte deshalb schon meinen eigenen Blog eröffnen. Sehr eindringlich auch der Bericht letzten Sonntag in TTT.

Anonym hat gesagt…

Mal ehrlich. Wer Ausdrücke wie "Gentrification" und "Prekarisierung" verwendet, gehört auch eingesperrt.

IMpressum hat gesagt…

Wer den Volksverhetzungsparagraphen befürwortet und sich damit vom Geist einer Demokratie hoher Qualität verabschiedet hat,muß sich nicht wundern, wenn Meinungsbewertungen nun auch in Fällen von Linksabweichlern zu Kriterien für den Freiheitsentzug werden. Die Linke bejubelt bis heute die fortlaufende Verschärfung des § 130 STGB und merkt scheinbar nicht, daß die dahinterstehende Philosophie der " gefährlichen Meinung" auch sie treffen könnte, wenn auch mittels anderer juristischer Konstruktionen. Wer sich als Linker darüber freut, daß er die Massenmorde Stalins weiter unkritisch bejubeln darf und meint, daß ihn das hinreichend vor juristischer Verfolgung schützt, sollte vielleicht nochmal nachdenken.

IMpressum hat gesagt…

http://www.marnem.de/blog/2007/08/13/das-grundgesetz-artikel-5/#comments
Als Ergänzung noch obige Diskussion zum Thema Grundgesetz und Meinungsfreiheit. Der Diskussionsverlauf zeigt, wieviel Angst das mittelschichtige Establishment vor einem Engagement für eine umfassendere Meinungsfreiheit hat und wie demokratiefern hier gedacht wird.

Anonym hat gesagt…

Die Fahndung läuft jedenfalls weiter.

Anonym hat gesagt…

Ich bin ein Terrorist.

Gentrification, Prekarizierung.
Implodieren, Reproduktion - diese beiden Begriffe sind auch Terroristenworte, laut telepolis-Artikel:

http://www.heise.de/tp/r4/artikel/26/26099/1.html

Ich bin ein Terrorist. Ich benutzte die TOR-Anonymisierungssoftware. (Verfassungsschützer, los, an die Arbeit! Fangschaltung, man-in-the-middle-Attacke, los, hop hop!

Ich bin ein Terrorist, da ich ein akademisches Studium absolviert habe.

Ich bin ein Terrorist, da ich mich öfter in Universitätsbibliotheken aufhalte.

Ich bin ein Terrorist, da ich mich für Netzaktivismus interessiere und ihn praktiziere.